Menschlichkeit als persönliche Richtschnur für den Alltag
16. August 2024Toxische & narzisstische Gruppendynamiken | Sündenbock | psychischer Missbrauch
In diesem Beitrag soll es um toxische & narzisstisch angeführte Gruppendynamiken gehen, und zwar nicht unbedingt aus wissenschaftlicher Sicht, sondern so im Mix mit meinen persönlichen Gedanken dazu. Ein rein wissenschaftlicher Artikel folgt gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt.
Wie sind Gruppendynamiken organisiert und was ist „gesund“?
Eine Grundregel für gesunde Gruppendynamiken lautet, dass Menschen flexibel und dynamisch sind. Das bedeutet, es gibt zwar eine mögliche Hierarchie, auf den Job bezogen beispielsweise den / die Chef:in, eine:n Teamleiter:in und dann das Team. Jeder hat seinen Platz, seine Rolle und seine Aufgaben. Und dennoch kann jeder auch mal wechseln, z.B. seine Meinung äußern, die nicht allen anderen entspricht, um auf mögliche Schwierigkeiten hinzuweisen oder jmd. aus der Chefetage kann mal eine Aufgabe übernehmen, die normalerweise nicht seinem / ihrem Aufgabengebiet entspricht usw. In der Regel ist es möglich, dass alle gesehen werden und alle an Erfolg und Misserfolg irgendwie eingebunden sind. Gruppendynamiken können sich allerdings auch innerhalb eines Teams bilden, wenn jmd. z.B. denkt, dass er das Sagen hat und die anderen irgendwie in Abhängigkeit zu sich selbst bringt durch irgendeinen Umstand, z.B. da es der Freund des Chefs ist oder sowas.
Ziemlich bekannt zur Veranschaulichung von Gruppendynamiken ist das Modell der Rangdynamischen Positionen nach Raoul Schindler, das häufig in Teambuildingmaßnahmen herangezogen wird.
Darin enthalten sind die Rangpositionen:
- des Alpha, der den Anführer der Gruppe verkörpert und auf ein bestimmtes Ziel hinarbeitet
- die Beta-Rolle, die nicht anführt, aber dem Alpha am nächsten steht und beratend agieren kann – der Beta ist der Fachexperte oder Spezialist in einem bestimmten Kerngebiet, dessen Wissen die Gruppe benötigt, um ihre Ziele zu erreichen. Auf seine Beratung hin fällt der Alpha Entscheidungen. Dadurch, dass er dem Alpha so nah ist, kann es auch sein, dass er zum Alpha wird, falls dieser gestürzt wird und birgt somit gleichzeitig die Position des Vertrauten und einer besonderen Gefahr. Sie ist die einzige Rolle, die unbesetzt bleiben kann.
- die Rolle der sogenannten Gammas, die sich an der Alpharolle ausrichten und wichtige Tätigkeiten zur Erreichung des Zieles ausführen. Die Gammarolle bietet immer die Möglichkeit, innerhalb der anderen Gammas nicht sichtbar zu sein.
- und dann noch die Rolle des Omega, der in diesem Modell NICHT das rangniedrigste Mitglied verkörpert, sondern eine Art Gegenposition zu Alpha (!). Der Alpha und der Omega werden gesehen.
Wichtig: Dieses Ranggefüge wird häufig mit einem Wolfsrudel verglichen, bei dem jedoch das Omega das Gruppenmitglied mit dem niedrigsten Rang wäre – der „Problemwolf“ sozusagen. Dieser wird im Rudel zwar mit „durchgefüttert“, verbringt seine Zeit jedoch nicht unbedingt integriert, sondern eher abseits der Gruppe. Dies ist mit der Omegarolle im Modell nach Raoul Schindler nicht gemeint. Anhand seines Modells möchte ich auf eine eher „gesunde“ Gruppendynamik eingehen, um daraus später „ungesunde / toxische“ Gruppendynamiken abzuleiten.
Wesentlich ist für „gesunde“ Gruppendynamiken, dass ein Kriterium der Reife eines Menschen in diesem Zusammenhang bedeutet, dass er die Fähigkeit besitzt, in Rangpositionen wechseln zu können. Wichtig ist das auch deshalb, weil ein Mensch sich ja nicht isoliert nur in einer Gruppe bewegt, sondern in unterschiedlichen Gruppenkonstellationen unterwegs ist.
Innerhalb einer Gruppe ist es so, dass es grundsätzlich ein Ziel gibt, auf das alle Gruppenmitglieder unter der Führung des Alpha hinarbeiten. Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es unterschiedliche Rollen mit unterschiedlichen Aufgaben. Durch das Ziel im Außen und das gleichzeitige Arbeiten am inneren Selbst jedes Einzelnen, entsteht eine Gruppen-Identität, was nach Schindler erst eine Gruppe ausmacht.
Das Gegenteil davon wäre beispielsweise eine Menschenmenge, die aufgrund eines äußeren Umstandes zusammenkommt, ansonsten aber keine Verbindung zueinander hat. Zudem gibt es Wir-Gruppen, in denen die Abgrenzung nach außen in Bezug auf einen Gegner im Vordergrund steht. Als weitere Abgrenzung zur Gruppe nennt Schindler die Institution, in der „eine Erstarrung der dynamisch verbundenen Rangpositionen und dem Aufbau einer formellen Hierarchie“ (zitiert nach PRITZ 1983, S. 89, aus: Röck-Svoboda, 1993) kennzeichnend ist (Vgl. Röck-Svoboda, 1993, S. 6).
Nur in einer Gruppe mit innerer Identität und äußerem gemeinsamen Ziel entsteht eine Rangdynamik, also etwas, das sich in Bezug auf Rollen und Rang beweglich entwickeln und sich verändern kann, wo sich aber anhand der Identität eine Orientierung und eine bestimmte Definition der Gruppe und des Individuums herauskristallisiert.
Wichtig dabei ist das Wort „dynamisch“, denn es ist charakteristisch für „gesunde“ Gruppen, dass zur Erreichung des gemeinsamen Ziels die Rollen und damit die Aufgaben wechseln können, je nachdem, was gerade zielführend ist. „Die eigentümliche Dynamik des kleinen Kollektivgebildes „Gruppe“ ist weit mehr als ein Kräftespiel zwischen [Alpha] und Gruppe“ (Röck-Svoboda, 1993).
Innerhalb der einzelnen Rollen gibt es noch verschiedene Ausprägungen. Der Alpha kann beispielsweise gruppenorientiert sein, er kann narzisstisch sein, oder aber auch heroisch. Letzteren möchte ich hier rauslassen. Er richtet sich eher gegen die Gruppe und zeigt ein aggressives Vorgehen nach außen. Während der gruppenorientierte Alpha die Ziele der Gruppe zwar verkörpert, so befinden sich die realen Ziele eigentlich im Außen, und er kann durch sein gruppenorientiertes, empathisches Verhalten die Gruppe zu ihrem Ziel führen, so geht es beim narzisstischen Alpha eher um die Ziele des Alphas selbst, bzw. ER ist das Ziel auf das alle ausgerichtet sind, wobei er durchaus in der Lage ist, ein Wir-Gefühl zu erzeugen und ein Sicherheitsgefühl zu bieten.
„Die Gruppe wiederum gibt ihm die Sicherheit, indem sie ihn in der Alpha-Position bestätigt. Aus dem analytischen Blickwinkel betrachtet spiegeln die Gammas (das Gros der Gruppe) die Persönlichkeitsanteile der Gruppe wider. Verfolgt die Gruppentherapie analytische Ambitionen, so erreicht sie nur Alpha, dessen Unbewusstes allerdings tatsächlich in die Gruppe projiziert und relativ gut sichtbar wird“ (Röck-Svoboda, 1993, S. 12).
Der Omega ist der Gegenpol zu Alpha und damit eine ausgleichende Kraft. Er hat häufig Widerstände und sieht das Ziel aus einer anderen Perspektive. Häufig zieht er genau in die andere Richtung. Vielleicht sieht er bestimmte Schwierigkeiten, die die anderen nicht sehen, oder hinterfragt noch einmal kritisch die Ansichten und Werte, mit der das gemeinsame Ziel der Gruppe erreicht werden soll. Er wird häufig als Widersacher angesehen und von den Gammas, die sich mit den Zielen des Alphas identifizieren und darüber eine Orientierung und Sicherheit erreichen, angegriffen oder ausgegrenzt. Er gilt als Hindernis, anstatt als hilfreiche Unterstützung, die eine Gruppe durch Integration statt durch Abwehr gegen ihn erlangen könnte. Da er häufig als Störfaktor wahrgenommen wird, der die Gruppe aufhält, wird er nicht selten zum Sündenbock degradiert, der an allem Schuld ist, was schief läuft. Alle anderen sind sich schließlich einig und bestärken sich dadurch gegenseitig darin, nicht falsch liegen zu können. Dem Omega gegenüber könnte sich das durch Verhaltensweisen, wie beispielsweise Dominanz, gelangweilte Ignoranz oder offene Aggressivität zeigen.
Gruppendynamiken, in denen ein oder mehr Personen narzisstisch sind (bei 2 Personen kann es zu extremer Rivalität kommen, die beide die Alpha-Position beanspruchen), werden in der Regel durch eine Person stabilisiert, auf der alles Mögliche an inneren Konflikten durch bestimmte toxische Verhaltensweisen abgeladen wird, was sich früher oder später zu offenen oder verdeckten Abwertungen, Hohn, Spott, Verdrehungen von Tatsachen, Ignorieren und zu einer niemals möglichen Konfliktlösung durch sehr gezielte Abwehr der Übernahme der Verantwortung des Narzissten oder der Gruppe zeigt. Die unterschwellige Botschaft lautet häufig: „Mach das, was man dir sagt, ordne dich unter, füge dich hier im Gruppengefüge so ein, wie wir das alle wollen, sonst fliegst du raus (aus UNSERER Gruppe!).“ Ein WIR gegen DICH wird erzeugt, und es geht nie um Augenhöhe, sondern um ein Machtgefälle. Bei Narzissten IMMER.
Jeder kann zufällig in eine solche Gruppendynamik geraten. Und gerade innerlich gefestigte und zufriedene Menschen sind häufig betroffen, da sie den Neid und den Selbsthass des Narzissten häufig auf sich ziehen. Man darf also nicht denken, dass das nur schwächere Menschen betrifft. Destabilisierung ist das Ziel, damit der Narzisst und ggf. auch andere der Gruppe sich überhöhen und darüber die ganze restliche Gruppe stabilisieren können.
Wer als Sündenbockkind in einer sehr stark narzisstisch geprägten Familie aufgewachsen ist, ist aufgewachsen als Projektionsfläche für den Selbsthass der narzisstischen Bezugsperson*en, und mit dem Narrativ des Schuldigen oder Bösen oder Kranken – ohne positive Facetten. Dieses Kind ist häufig sehr empathisch und versteht auch häufig die Zusammenhänge, bzw. versucht diese herauszufinden, um für alle Beteiligten eine bessere und angenehmere Lösung zu finden. Es ist aber ja schon lange kein Geheimnis mehr, dass gerade die für alle faire Lösungsfindungen NICHT in narzisstischen Gruppen gewollt ist. Der / die Narzisst:in ist sich grundsätzlich selbst der Nächste und erwartet, dass die anderen Gruppenmitglieder dessen Bedürfnisse erfüllen. Dazu gibt es eben undynamische (und damit ungesunde) Rollen – die beiden Wesentlichsten zum Verständnis der Dynamik sind Gold- und Sündenbockkinder, auf die jeweils alles Mögliche an inneren Prozessen projiziert wird. Das Goldkind ist der ganze Stolz, kann nichts falsch machen und hat eine starke Sonderposition auf dem Podest des Narzissten (eine Art Beta). Je nachdem, wie der Narzisst tickt, ist das entweder angenehm oder mit bis zu sehr extremem Leistungsdruck verbunden.
Das Sündenbockkind kann hingegen nichts richtig machen. Es wird hart gemobbt, verleumdet, vernachlässigt, wird emotional häufig vollkommen im Stich gelassen und unterliegt nicht selten schwerem psychischem Missbrauch. Mindestens. Seine Rolle dient der Stabilisierung des Narzissten und darüber der ganzen Gruppe. Wenn er schuld ist, kann es der Narzisst nicht sein und muss keine Verantwortung übernehmen. Deshalb werden Konflikte grundsätzlich nicht geklärt, sondern er wird benutzt, um die Schuld auf ihm abzuladen. Während der Narzisst und das Goldkind sowie die sich loyal zeigenden übrigen Mitglieder nichts falsch machen können. Schließlich sind sie sich einig, dass der Sündenbock Schuld ist und das ist Beweis genug. Und da der Sündenbock dafür hart bestraft werden muss, ist auch die Klärung nicht nötig. Dies wiederum destabilisiert den Sündenbock. Und auch das spielt dem Narzissten und der ganzen Gruppe in die Hände, denn dann kann man sagen, dass er ja sogar psychisch krank sei und man sich gar keinen Rat mehr wisse, sich aber ja aufopferungsvoll um ihn gekümmert habe etc.
Die Opfer von Mobbingsituationen egal in welchem Umfeld (Job, Partnerschaft, Sündenbockkind u.ä.) haben häufig so wenig Selbstwert, dass sie aufgeben, sich keine Unterstützung holen, und sogar sich selbst die Schuld geben, obwohl sie sich häufig extrem um eine faire Klärung bemüht haben, da sie von der Gruppe einen extremen Selbstzweifel aufgelegt bekommen. Das ist die Basis von Missbrauch jeglicher Art. Das Opfer wird unter anderem destabilisiert, damit es nicht in der Lage ist, sich Unterstützung zu holen.
Wer in einer solchen Dynamik groß geworden ist, ist meiner Ansicht nach äußerst anfällig dafür, wieder und wieder zur Projektionsfläche zu werden. Häufig oppositioniert er und zeigt (in den meisten Fällen sehr gesund), was der Gruppe fehlt oder was sie nicht bedenkt, dadurch, dass sich alle einseitig und unhinterfragt in dieselbe Richtung ausrichten. Das wiederum kann dafür sorgen, dass der Sündenbock nicht nur wenig Identitäts- und Zugehörigkeitsgefühl hat, da er es meistens gut meint und sich einfach einbringen möchte, sondern oft nicht mitbekommt, dass es wieder passiert, in einer solchen Situation zu landen, während der anführende Narzisst dies bereits sehr wohl weiß. In den meisten Konstellationen hat er ja Abhängigkeiten geschaffen, die es der Gruppe nahezu unmöglich machen würden, ohne Verluste ebenso das Ziel oder den Weg zum Ziel zu hinterfragen. Und es kann auch sein, dass der Sündenbock psychisch destabilisiert, in Therapie geht und Zuhause oder im Job oder anderen Gruppengefügen aber wieder dem narzisstisch gestörten Menschen und seiner Gefolgschaft gegenüber steht, der das ganze Desaster erst auslöst.
Für den Sündenbock ist es Schwerstarbeit, diese Strukturen zu erkennen, zu durchschauen, zu verstehen, damit umgehen zu lernen und dass es hier niemals um ihn persönlich, sondern nur um blanke Bösartigkeit und absichtlichen Missbrauch geht. Aber es ist möglich, genauso wie es möglich ist, sich psychisch zu stabilisieren und mit einer möglicherweise vorhandenen komplexen posttraumatischen Belastungsstörung und allen enthaltenen Folgen umzugehen und auch gut im Leben zurecht zu kommen. Am Ende des Beitrags gibt es hierzu noch ein paar Hinweise.
Loyalität für den Narzissten und Konflikte
In stark narzisstisch geprägten Umfeldern ist es so, dass alles auf die Bedürfnisse des / der Narzisst:in ausgerichtet ist. Andere Personen werden als Verlängerung des eigenen Selbst gesehen, egal ob es hier um die eigenen Kinder (ganz besonders die eigenen Kinder), die weiteren Familienmitglieder, Freunde oder Kollegenkreis geht. Der Narzisst steht im Mittelpunkt. Einigen Menschen gibt das einen Ankerpunkt. Die Belohnung für Loyalität und das Erfüllen der Bedürfnisse des Narzissten ist, dass das Gruppengefüge über den „Anführer“ zusammengehalten wird, was den anderen Stabilität, Sicherheit und Zugehörigkeit vermittelt. Da der Narzisst in sich aber labil ist, benötigt die Gruppe Stabilisation über jemanden im Außen, den auserkorenen Sündenbock.
Natürlich wird sich niemand in die Nesseln setzen und offensichtlich jmd. gegenüber etwas tun, wofür er selbst belangbar wäre. Strategische Menschen tun das jedenfalls nicht, während es jemandem, der kalt von der Seite von solchen dysfunktionalen Dynamiken erwischt wird, durchaus passieren kann. Es ist natürlich für den Narzissten und alle anderen zudem wichtig, dass die Abwertungen, der Ausschluss und das Mobbing so verdeckt wie möglich passieren.
Konflikte werden weder geklärt, noch ist es gewünscht, Konflikte zu klären. Das würde dazu führen, dass jeder innerhalb der Gruppe auf Augenhöhe wäre und jeder Verantwortung für sein Handeln übernehmen muss. Jeder müsste Zugeständnisse machen und auch mal Kompromisse eingehen. Und das ist ja genau eben nicht gewünscht.
Innerhalb der Gruppe kann es beim Aufdecken des Mobbings, z.B. wenn sich der Gemobbte sehr klar ausdrücken kann und für sich selbst ein- und aufsteht, durchaus dazu kommen, dass die anderen sich unfassbar echauffieren und Gründe dafür finden, warum der Störfaktor (der Sündenbock) nun den Todesstoß erhält und aus der Gruppe offen ausgeschlossen wird. Offene und verdeckte Verletzungen dem Ausgeschlossenen gegenüber sind deshalb sogar erwünscht. Und das ist innerhalb der Gruppe auch entweder offen oder verdeckt für alle Gruppenmitglieder sehr klar erkennbar.
Alle gegen einen ist hier die Devise. Die Begründung: Du bist falsch als Person, keiner will dich hier haben. Sachverhalte werden verdreht, Vorfälle abgestritten, für Beleidigungen wird sich grundsätzlich nicht beim Opfer entschuldigt. Es geht ganz konkret um dessen Destabilisierung und im Zweifel auch um den Ausschluss. Die Gruppe denkt sogar häufig noch, dies im Namen des Guten zu tun, da sie einfach in Ruhe ihr Ziel erreichen möchte und den Wert in demjenigen, der etwas kritischer ist, nicht erkennen kann. Ist das Opfer in der Lage, für sich einzustehen und die Sachverhalte strukturiert darzustellen, echauffiert sich die ganze Gruppe, kümmert sich aber nicht um den Inhalt des Dargestellten, egal, wie fair und herzlich der Sündenbock für alle Beteiligten versucht, hier eine Klärung anzubahnen.
Was NICHT die offizielle Begründung ist, aber ehrlich wäre: Wir alle wollen uns um wahre Klärung drücken, da wir dich als Gruppenstabilisator benutzen und deshalb auch deine Not gar nicht sehen MÖCHTEN. Und da sind sich dann auch alle einig. Und wer sich als Gruppe einig ist, der kann einem gegenüber nicht falsch liegen. Dies ist dann die Rechtfertigung für Ausschluss. Eine Art „social proof“. Und das kann auf das Mobbingopfer tatsächlich spätestens hier psychisch extrem verheerende Auswirkungen haben, da letztlich die Gruppe gemeinsam gegen einen das offene und für alle anscheinend plausible Zeichen für jeden Beteiligten ist: Der social proof hat ergeben, dass du als Person falsch bist, dich falsch verhältst und den Todesstoß verdient hast.
An dieser Stelle möchte ich dazu aber einen weiteren Gedanken mit euch teilen. Denn Sündenböcke können sehr verschieden auf solche Gruppendynamiken reagieren:
- Die einen könnten es versuchen, sich auszudrücken, werden dann nicht selten öffentlich verbal hingerichtet und brechen tatsächlich unter dieser psychischen Last zusammen.
- Andere könnten sich einfach dem Willen fügen, schließen sich dem Gruppengefüge und den Zielen des Narzissten und der gesamten Gruppe um ihn an. Dadurch bleiben sie in der Rolle des Gruppenstabilisators, riskieren psychische und körperliche Symptome, Krankheiten und Langzeittraumatisierungen. Sind Kinder hiervon betroffen, können sie gar nicht ausweichen und haben dann dieses Schicksal einfach inne, da sie sich weder ausdrücken können, noch eine reelle Chance haben, aus der Familie einfach auszusteigen. Im Gegenteil, sie müssen immer wieder Schutz und Trost in der eigenen Unterwerfung suchen, um (emotional und psychisch) überleben zu können, angetriggert wird aber tatsächliche Todesangst, denn die immer in der Luft liegende Drohung lautet: Pass dich an, stabilisiere die Gruppe bzw. den Narzissten, ansonsten bekommst du den letzten Rest / den Todesstoß verpasst.
- Der Sündenbock kann sich (mittlerweile zum später als Erwachsener) sehr gut ausdrücken, da er vielleicht gut aufgeklärt ist über diese Dynamiken, sich viel auch innerlich damit beschäftigt hat usw. und steht offen für sich ein. Da eine Konfliktlösung ja nicht gewünscht ist, kommt der Todesstoß in Form des Ausschlusses.
Menschen, die die Sündenbockrolle von einem Narzissten und darüber von der zugehörigen Gruppe erhalten, können entsprechend „psychisch kippen“, je antisozialer einzelne Gruppenmitglieder, desto schwerer die Folgen für das Opfer.
Handlungsfähigkeiten des Sündenbocks
Was wir aber AUCH sehen können ist, dass der Sündenbock kein Opfer sein muss, wenn er sich ausdrücken kann, wenn er bestimmte Verhaltensweisen und Dynamiken einer Gruppe erkennt und auch erkennt, dass es nicht um ihn persönlich geht, sondern darum, dass er Mittel zum Zweck der Gruppenstabilisierung ist.
Er kann darüber den Ausschluss aus einer solch toxischen Gruppe vielleicht sogar als positive Erleichterung ansehen, wenngleich er ihn häufig nicht verhindern kann – und auch damit fein sein darf, nicht in Gesellschaft solcher Menschen glücklich zu werden..
Was mir auch sehr wichtig zu betonen ist: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man sich selbst in solchen Situationen den größten Gefallen tut, wenn man sofort handelt und gegensteuert, ggf. auch sehr schnell sich Unterstützung von außen einholt. Denn ist man erst mal psychisch destabilisiert, reagiert das Nervensystem häufig in Mustern und es wird alles irgendwie nur noch verworrener und undurchsichtiger und letztlich geht es um deine Gesundheit.
Für mich bedeutet das, dass ich beim allerersten Eindruck noch nichts tue, denn auch ich kann mich irren und überreagieren. Sofort zu reagieren könnte auch unberechtigte Unterstellungen hervorrufen, und das ist ganz bestimmt nicht meine Intention.
Ab der 2. oder 3. Auffälligkeit fange ich bereits an, mir Notizen zu machen, da ich von mir selbst weiß, dass unfaire und gewollte Destabilisierungsversuche in meine Richtung dazu führen können, dass ich eine Art dissoziativen Zustand mit Herzklopfen und Schwindelgefühlen bekomme, der sich teilweise über Stunden hinziehen kann. Es ist eine Art Pochen im Kopf, das mir nicht mehr ermöglicht, mich klar und fokussiert auszudrücken. Deshalb notiere ich mir Datum, Uhrzeit, beteiligte Personen und meinen persönlichen (und zunächst ja völlig subjektiven) Eindruck der Situation, um mich nicht irgendwann im weiteren Verlauf durch die Dissoziation selbst zu gaslighten. Denn Sinn und Zweck sind ja Angriffe auf den Selbstwert etc., durch den das Opfer aus der Lage versetzt wird, sich Hilfe zu holen.
An dem Punkt wird etwas sehr wesentliches klar: Der Sündenbock ist nicht nur Opfer, er ist zugleich auch eine Gefahr für den Narzissten und alle anderen Gruppenmitglieder. Würde er es schaffen, den Missbrauch aufzudecken, wäre das der Todesstoß für die Täter.
Dennoch rate ich dazu, so wenig wie möglich in den Kampf zu gehen, denn letztlich wärst du nicht dort, wo du jetzt bist, wenn du es mit Menschen zu tun hättest, die sich normal-gesund verhalten, und die eine Klärung wollen. Deshalb bring dich lieber in Sicherheit, ggf. kannst du rechtliche Schritte einleiten, je nachdem, worum es genau bei dir geht. Ansonsten steht es „alle gegen einen“.
Das bedeutet insgesamt, es ist extrem wichtig, sehr fair zu bleiben, für alle Gruppenmitglieder eine faire Lösung anzustreben, um nicht selbst hinterher als Täter dazustehen, und es ist ebenso sehr wichtig, die Sachverhalte klar und präzise ausdrücken zu können und dokumentiert zu haben. Und es ist wichtig, sich sehr klar vor Augen zu führen, dass du nicht persönlich gemeint bist, und du unbedingt gut für dich sorgen und ggf. Unterstützung an die Seite haben musst, um stabil bleiben zu können.
Mögliche Lösungskaskade
Wenn du selbst in einer solchen Situation gerade bist oder bereits warst, vielleicht sogar als Sündenbockkind in einer sehr narzisstisch geprägten Familie aufgewachsen bist, könnte eine mögliche Lösungskaskade folgende Punkte beinhalten:
- Eine Akutbegleitung in Form der Telefonseelsorge, eines Klinikaufenthaltes (je nachdem, wie schwer die Folgen für dich aktuell sind), oder auch ein traumasensibles Coaching (in dem nicht in die Tiefe gegangen wird, sondern Stabilisierungsübungen und ein verständnisvolles, offenes Ohr angeboten wird).
- Traumatherapie, spezialisiert auf Narzissmusopfer oder Bindungs- und Entwicklungstraumata. Informiere dich bei dich bei deiner Krankenkasse über mögliche Therapieangebote. Selbstzahler können auch – häufig sogar schneller – zu einem Heilpraktiker für Psychotherapie gehen, bzw. die Zeit bis zum Therapiestart dort überbrücken.
- Du kannst die Situation jederzeit so gut wie möglich verlassen – den Job wechseln oder den Kontaktabbruch in Erwägung ziehen, was jedoch nicht immer der sinnvollste Weg ist. Nimm dir gerne eine Beratung an die Seite, wenn nötig, um für dich die beste individuelle Lösung zu finden.
- Zudem würde ich die Situationen inkl. Datum, Uhrzeiten, Umständen und beteiligten Personen immer so genau wie möglich dokumentieren.
- Journaling machen – welche Gedanken und Körperempfindungen hast du gerade? Es ist wichtig, dass das nicht verloren geht, um mit der Zeit immer besser, adäquater und gesünder für dich sorgen zu können.
- Dich sehr gut und wohlwollend auch ansonsten um dich kümmern, z.B. Yoga machen, mit deinem Haustier kuscheln, Freunde treffen, Sport machen, ein schönes Bad nehmen usw.
- Und vergiss nicht, genug zu trinken, zu essen und zu schlafen, wenn möglich.
Solltest du selbst betroffen sein von psychischem Missbrauch / Mobbing, dann hole dir bitte unbedingt wohlwollende Unterstützung an die Seite von jmd., der sich mit der Thematik auskennt und dir auch das Gefühl geben kann, dass du bei demjenigen gut aufgehoben bist. Du solltest eine gute Psychoedukation – auch bzgl. möglicher Vorgehensweisen mit solchen Menschen, die das tun und Regulationstechniken – erhalten können, um aus einer solchen Situation so schnell wie möglich heraus zu kommen. Denn auch starke Menschen mit einem gefestigten Umfeld können unter Mobbing sehr leiden und psychische oder körperliche Schwierigkeiten bekommen. Du bist nicht alleine!
Quellen:
Röck-Svoboda, Waltraud (Mag.): Das rangdynamische Positionsmodell nach Raoul Schindler – aus gruppen- und organisationsdynamischer Sicht, 1993;
Download: https://www.roeck-svoboda.at/app/download/10946447373/DAS+RANGDYNAMISCHE+POSITIONSMODELL+nach+R.+Schindler_SKRIPTUM+2014+.pdf?t=1544380767 [letztmalig abgerufen am 22.09.2024].
Bildquelle: 4117354 | canva Pro | pixabay